Immer mehr Kinder und Jugendliche werden Opfer von sexuellem Missbrauch, sagen jene, die sich um die Betroffenen kümmern. Wie viele Fälle es tatsächlich gibt, weiß niemand. Ein großer Teil bleibt im Verborgenen
Von Aimée Jajes
Kempten/Oberallgäu Schweigen. Monatelang, jahrelang, jahrzehntelang. Manchmal auch ein Leben lang. Zwar gibt es Zahlen, wie viele Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen bei der Polizei landen. Doch jene, die sich mit dem Thema beschäftigen, verweisen auf die Dunkelziffer. Betroffene, Angehörige, Bekannte bleiben oft stumm. Aus Angst. Aus Scham. Aus Hilflosigkeit. Auch weil es sich bei sexuellem Missbrauch nach wie vor um ein Tabuthema handelt, sagt Traumatherapeutin Andrea Portsidis. Obwohl - das sagt nicht nur sie - die Zahl an Übergriffen in der Region zu steigen scheint.
Als Außenstellenleiterin des WEISSEN RINGS Kempten/Oberallgäu betreut auch Irmgard Leicht Opfer. "Ich glaube, dass die Dunkelziffer zugenommen hat", sagt sie. "Mehr Betroffene als früher rufen direkt bei uns an." Ihr Fall landet nicht bei der Polizei und wird nicht erfasst. "Ich habe Schweigepflicht", erklärt Irmgard Leicht. "Ich kann den Opfern nur den Rat geben: Geh zur Polizei!" Bei mittlerweile zwei Dritteln der Fälle, um die sich die Oberallgäuerin und ihre ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen kümmern, gehe es um sexuellen Missbrauch.
Meist geht es um Macht
Dagmar Bethke, Beauftragte für Kriminalitätsopfer bei der Polizei in Kempten, weist auf das Hellfeld hin, also die Zahl der Fälle, die angezeigt werden. Diese sei in den vergangenen Jahren sogar gesunken. 2013 verzeichnete die Polizei in Kempten und dem Oberallgäu noch 63 Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen. Im vergangenen Jahr lag die Zahl bei 37. Nur bei einem geringen Teil der Übergriffe seien die Täter pädophil, fühlen sich also sexuell zu Kindern hingezogen. "Alles andere sind Machtdelikte."
Aber auch Bethke betont: Die Dunkelziffer einzuschätzen, sei schwierig: Manche gehen von zehn bis 30 Prozent aus. Andere nehmen sogar an, dass auf jeden Fall im Hellfeld neun im Dunkelfeld kommen.
Vieles, was die drei Frauen sagen, überschneidet sich: Sexuelle Übergriffe kommen häufig im Verwandtschafts- und Bekanntenkreis vor: der Stiefvater, der Onkel, oder gar der eigene Vater. "Das ist, was mich so erschreckt", sagt Irmgard Leicht. Außerdem: Missbrauch ist unabhängig von Gesellschaftsschichten. "Jeder Täter sucht in seinem Umfeld", sagt Dagmar Bethke. Nicht selten wirke er freundlich. Der Lieblingstrainer zum Beispiel.
Aber nicht ausschließlich Männer vergehen sich an Kindern, sagt Andrea Portsidis. Sie betreute auch Fälle, bei denen weibliche Verwandte Täterinnen waren. Hier sei das Dunkelfeld laut Dagmar Bethke noch höher: "Frauen traut man das noch weniger zu." Das passe nicht zur Rolle der sorgenden Mama. Dass viele Übergriffe nicht bei der Polizei landen, hat unterschiedliche Gründe: Der Täter schüchtert sein Opfer ein, versucht ihm die Schuld zu geben. Es fallen Sätze wie: "Du hast mich angemacht." Oder die Drohung: "Wenn du das jemandem erzählst, machst du die Mama traurig." Betroffene haben Angst, dass man ihnen nicht glaubt, dass sie nicht ernst genommen werden. Dass sie die Familie zerstören. Andrea Portsidis betont im Gespräch mehrfach: "Der Täter oder die Täterin ist schuld, niemals das Opfer."
Dass sie missbraucht wurden, können Kinder lange verstecken, sagt Irmgard Leicht. Doch sie senden Signale: Wenn ein Kind sagt: "Der busselt mich immer ab", sollte man aufhorchen, rät Leicht. Auch, wenn es irgendwo nicht hin will. Vor allem betroffene Buben reagieren häufig mit aggressivem Verhalten. Andere Kinder wiederum ziehen sich zurück. Aber, das betont Andrea Portsidis, natürlich steckt auch nicht hinter jeder Verhaltensauffälligkeit ein Missbrauch.
Für die Opfer jedenfalls sei es wichtig, die Wunden in der Seele aufzuarbeiten. Das Problem in der Region: Es gibt zu wenige Traumatherapeuten in Kempten und dem Oberallgäu, um die Betroffenen zu behandeln, sagt Irmgard Leicht. Noch wichtiger sei, dass es erst gar nicht zu Übergriffen komme. Präventionskurse - zum Beispiel in der Schule - helfen. Schüler lernen dabei etwa, Nein zu sagen. Außerdem müsse das Thema enttabuisiert werden, damit Betroffene und Angehörige sich trauen, darüber zu sprechen. Sie verfolgt ein Übergriff meist ein Leben lang. Andrea Portsidis erzählt von Frauen, die sagen: "Der Täter ist frei, ich hab’ lebenslänglich."
Hilfe Betroffene und Angehörige können sich zum Beispiel an den WEISSEN RING wenden unter 0 83 04 / 49 20 43.
Quelle: Mit freundlicher Genehmigung der Allgäuer Zeitung.